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Von Hans Christian Andersen (1805-1875)

Wer war die Glücklichste?


"Welch schöne Rosen!" sagte der Sonnenschein. "Und jede Knospe wird sich entfalten und ebenso schön werden. Das sind meine Kinder! Meine Küsse haben sie belebt."

"Meine Kinder sind es", sagte der Tau; "ich habe sie mit meinen Tränen gesäugt."

"Ich sollte doch meinen, daß ich ihre Mutter sei", sagte die Rosenhecke; "ihr andern seid nur Gevattern, die nach Vermögen und gutem Willen ein Patengeschenk gaben."

"Meine lieblichen Rosenkinder!" sagten sie alle drei und wünschten jeder Blume das schönste Glück; aber eine nur konnte die Glücklichste, eine mußte die am wenigsten Glückliche werden - aber welche von ihnen!

"Das will ich schon zu wissen bekommen", sagte der Wind; "ich jage weit umher, dränge mich in die engste Ritze und weiß außen und innen Bescheid."

Jede der aufgeblühten Rosen hörte, was gesagt wurde, jede schwellende Knospe vernahm es. Da kam eine tiefbetrübte liebevolle, in Trauerkleider gehüllte Mutter in den Garten; sie pflückte eine von den Rosen, die halb erblüht, frisch und voll war und welche ihr die schönste von allen zu sein schien. Sie trug die Blume in die stille, schweigsame Kammer, wo vor wenigen Tagen noch die junge, lebensfrohe Tochter sich bewegte, welche jetzt, einem schlafenden Marmorbilde gleich, in dem schwarzen Sarge lag.

Die Mutter küßte die Tote, küßte darauf die halberblühte Rose und legte diese auf die Brust des jungen Mädchens, als ob sie durch ihre Frische und den Kuß der Mutter ihr Herz wieder schlagen machen könnte.

Die Rose schien zu schwellen; jedes Blatt bebte in freudigen Gedanken. "Welch ein Weg der Liebe ist mir vergönnt! Ich werden wie ein Menschenkind, ich bekommen einen Mutterkuß, ich empfange ein Segenswort, und ich gehe mit in das unbekannte Reich, träumend an der Brust der Toten! Gewiß, ich wurde die Glücklichste von allen meinen Schwestern!"

In den Garten, in welchem der Rosenbusch stand, ging auch die alte Gärtnerin. Auch sie betrachtete die Herrlichkeit des Rosenstrauches, und ihr Auge haftete auf der größten voll erblühten Rose. Ein Tautropfen und ein warmer Tag - und die Blätter würden fallen.

Das sah die Frau und fand, daß die Rose, welche den Gipfel ihrer Schönheit erreicht habe, auch Nutzen bringen müsse. Sie pflückte sie also und legte sie zwischen ein Zeitungsblatt, um sie mit nach Hause zu andern entblätterten Rosen zu nehmen, um Potpourri davon zu machen, in Gesellschaft mit den kleinen blauen Burschen, die man Lavendel nennt, und sie mit Salz einzubalsamieren. Balsamiert, das werden nur Rosen und Könige.

"Ich werde am höchsten geehrt!" sagte die Rose, als die Gärtnerin sie pflückte. "Ich werde die Glücklichste! Ich werde balsamiert werden."


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